Evelyn Wendt
Evelyn Wendt
Geboren am 11. April 1962 - Ermordet am 29. September 1995
Evelyn Wendt war alleinerziehende Mutter, Gleichstellungsbeauftragte und Dezernentin der Stadt Königs Wusterhausen. Sie wurde von ihrem Ex-Partner erschossen, weil sie es gewagt hatte, sich von ihm zu trennen. Ihr Tod war ein Femizid – die Tötung einer Frau aus Besitzstreben.
Evelyn Wendt hatte ein erstes und ein zweites Leben. 1989 erkrankte sie an Krebs. Da war sie 27, verheiratet, hatte vier Kinder. „Wenn die Haare wieder wachsen, wenn du das überlebst, dann wird alles anders“, schwor sie sich. Und sie machte ihren Schwur wahr. Bis dahin hatte sie als Sachbearbeiterin bei den Wasserbetrieben gearbeitet – eine junge Frau mit wenig Ehrgeiz und noch weniger Selbstvertrauen. Woher auch? Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie und ihre Schwester noch klein waren. Der Vater fehlte. Die Mutter liebte ihre beiden Mädchen abgöttisch, war aber mit dem anstrengenden Alltag einer Alleinerziehenden überfordert. Lebensklugheit und Selbstbewusstsein konnte sie ihren Töchtern nicht mitgeben.
Evelyn aber wollte es nun anders und besser machen. Und es war ja auch eine Zeit der Umbrüche, der großen Hoffnungen im Osten Deutschlands. Die junge Frau trat in die neu gegründete SPD ein und baute die Ortsgruppe mit auf. Sie hängte den unbefriedigenden Job an den Nagel und begann ein Fernstudium. Und sie löste sich aus einer für sie sinnlos gewordenen Ehe. 1990 kandidierte Evelyn Wendt bei den ersten und letzten freien Kommunalwahlen in der DDR. Mit Erfolg: Sie wurde Stadträtin für Soziales, Jugend und Gesundheit in Königs Wusterhausen.
Eine Aufgabe, die sie sich bewusst gesucht hatte. „Unsere Mutter war immer sehr sozial“, beschreibt sie Mayk Wendt, ihr Zweitältester. „Wo sie helfen konnte, hat sie geholfen. Sie hat viel gearbeitet. Aber wenn sie für uns da war, dann gab es nichts anderes.“ Da wurden jeden Abend gemeinsam die Hausaufgaben gemacht – aber auch das Mittagessen für den nächsten Tag vorgekocht. Jedes Kind hatte feste Aufgaben: den Müll wegbringen, Holz aus dem Keller holen, Staub saugen, abwaschen. Mayk Wendt: „Sie hatte all unsere Termine in ihrem Kalender, hat nie einen vergessen. Und wenn ich am Wochenende ein Fußballspiel hatte, war Mutter immer dabei!“
Auch ihre Kollegin Roswitha Böttcher spricht mit Hochachtung von ihrer damaligen Vorgesetzten: „Sie war ins Wasser geworfen worden und musste sofort schwimmen. Dabei war doch alles doppelt neu. Es gab keine Strukturen, auf die sie zurückgreifen konnte.“ Die neue, herausfordernde Aufgabe, dazu ständige Weiterbildungen, der Umgang mit den oft älteren Mitarbeitenden, von denen viele selbst noch nicht wussten, wie es weitergehen würde. Dazu erste Entlassungen, die die neue Chefin nicht verhindern konnte – und nun gegen ihren eigenen Willen durchsetzen musste. „Ich hab sie bewundert, wie stark sie war. Wie sie gekämpft hat, um alles in den Griff zu kriegen. Sie war sehr kollegial. Aus Frau Wendt hätte eine richtig gute Politikerin werden können!“
Sie war es auch – wenn auch nur für kurze Zeit. Als erste Gleichstellungsbeauftragte von Königs Wusterhausen setzte sich Evelyn Wendt für die Rechte von Frauen, Ausländern und Behinderten ein und war maßgeblich an der Gründung des örtlichen Frauenhauses beteiligt. Ihr besonderes Augenmerk galt immer Alleinerziehenden. Sie hatte ja selbst erfahren, wie schwer das ist!
Als Anfang der 90er-Jahre afghanische Geflüchtete nach Königs Wusterhausen kamen, nahm Evelyn Wendt ganz selbstverständlich eine junge Mutter mit ihren drei kleinen Kindern vorübergehend zu sich – in die winzige Vier-Zimmer-Wohnung im Schulweg 9, in der ja schon fünf Personen lebten. „Es wird eng, aber wir bekommen das hin“, erklärte sie ihren drei Söhnen und der Tochter. „Wenn man kann, muss man helfen!“ Und auch das funktionierte ohne Streit und Missgunst. So bekam Evelyn Wendt Kontakt zur afghanischen Community und lernte dort auch ihre große Liebe kennen – einen Mann, der seit Jahrzehnten in der BRD lebte, studiert hatte, fünf Sprachen sprach und sich wie sie in der SPD engagierte. Ein moderner, weltoffener Mensch, so schien es, der sich für seine neue Liebe von seiner Frau und den drei Kindern trennte.
Evelyn Wendt ertrug, dass nun plötzlich nachts das Auto beschmiert wurde – „Ausländerhure!“ –, dass es schiefe Blicke gab und Kopfschütteln. Mayk Wendt: „Wir hatten unsere Mutter nie so glücklich erlebt wie in dieser Zeit!“ Und so sagten die Kinder lange nicht, dass sie Angst hatten, mit dem neuen Partner allein zu sein, dass er die Jüngeren schlug und drangsalierte. Sie wollten ja ihre Mutter glücklich sehen. Irgendwann aber ließ es sich nicht mehr verschweigen. Evelyn Wendts Entscheidung war eindeutig: „Es ist vorbei!“ Ihre Kinder waren wichtiger als ihre Liebe.
Sie forderte ihren Freund zum Auszug auf, half ihm, eine Wohnung in der Nähe seiner alten Familie zu finden, unterstützte ihn beim Einrichten. Am 29. September 1995 wollte sie ihm noch letzte Kleidungsstücke bringen – gewaschen und gebügelt. Sie hatte seinen 18-jährigen Sohn gebeten, bei dieser Begegnung dabei zu sein. Als der dann kurz zum Auto ging, um die Sachen zu holen, hörte er Schüsse. Sein Vater hatte zuerst Evelyn Wendt und dann sich selbst erschossen. Wenn er allein bleiben musste, sollte sie auch nicht leben! Er war die extremste Konsequenz von Besitzanspruch und Gewalt gegen Frauen.
Evelyn Wendt wurde nur 33 Jahre alt. Der Täter hat ein Leben zerstört, hat eine junge Frau getötet, die noch so viel vorhatte. Aber er konnte sie nicht auslöschen – nicht das, wofür sie gelebt und sich eingesetzt hatte.
Ihre Kinder, damals acht, zehn, dreizehn und sechzehn Jahre alt, blieben ohne Mutter zurück. Aber es gab noch den Vater, die Großeltern mit dem Bauernhof und den vielen Tieren. Der Kontakt dorthin war nie abgebrochen – das war Evelyn Wendt wichtig. Ihre Kinder sollten auch dort zu Hause sein. Und sie hatte ihnen vieles mitgegeben, was half, neuen Halt zu finden: Selbstvertrauen, Zusammenhalt, solidarisches Mitgefühl. Alle vier sind den Weg weitergegangen, den ihre Mutter ihnen gezeigt und geebnet hatte.
Evelyn Wendts zweites Leben – es hat nur sechs Jahre gedauert. Eine Zeit, in der sie so viel erreicht hatte! Vieles, was sie damals anstieß und aufbaute, existiert bis heute.
Was bleibt, ist die Erinnerung an eine junge, kluge, selbstbewusste und fröhliche Frau, die so gern gelebt hat!
Gislinde Schwarz